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„Influencer Illness“ – Eine theoretisch fundierte Betrachtung eines neuartigen Abhängigkeitsphänomens im digitalen Zeitalter.

Von Prof. Dr. Alfred-Joachim Hermanni

03.05.2025


Einführung in das Phänomen, Zielsetzung und Relevanz
Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Relevanz sozialer Medien ist ein neues Muster im Mediennutzungsverhalten zu beobachten: Rezipienten orientieren sich verstärkt an Social-Media-Influencern, übernehmen deren Meinungen, Lebensstile und Handlungsmuster – oftmals ohne kritische Reflexion. Die im vorliegenden Beitrag entwickelte Theorie der „Influencer Illness“ beschreibt ein Phänomen, das über konventionellen Medienkonsum hinausgeht. Es handelt sich um ein suchtähnliches Verhalten, das sich durch eine übermäßige emotionale und kognitive Bindung an digitale Vorbilder manifestiert. Ziel des Artikels ist es, den Begriff wissenschaftlich zu definieren, theoretisch zu fundieren und erste Implikationen für eine medizinisch-psychologische Analyse zu skizzieren.


Begriffliche Einordnung der „Influencer Illness“
Der Begriff Influencer Illness bezeichnet eine psychosoziale Abhängigkeit von den medialen Inhalten bestimmter Social-Media-Persönlichkeiten. Kennzeichnend sind eine unverhältnismäßige affektive Bindung, ein hohes Maß an Identifikation und ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten gegenüber dem potenziellen Informationsverlust. Betroffene zeigen ein vermindertes Reflexionsvermögen in Bezug auf die Informationsquellen sowie eine hohe Anfälligkeit für emotionalisierende, pseudowissenschaftliche oder manipulative Inhalte. Langfristig kann dies die individuelle Meinungsbildung, das Selbstwertgefühl sowie die psychosoziale Integrität erheblich beeinträchtigen.


Abgrenzung zu verwandten Phänomenen
Im Unterschied zur allgemeinen Social-Media-Sucht oder Internetabhängigkeit, die primär durch exzessive Nutzung und Kontrollverlust gekennzeichnet sind, beschreibt die „Influencer Illness“ eine spezifische Form emotionaler und kognitiver Abhängigkeit von Social-Media-Persönlichkeiten. Im Vordergrund steht nicht die Plattformnutzung an sich, sondern die übersteigerte Identifikation mit Influencern, die zu einer verzerrten Wahrnehmung, unkritischen Meinungsübernahme und einem Verlust der Selbstabgrenzung führen kann. Damit ist das Phänomen eher relational als konsumbezogen – es betrifft Beziehungsdynamiken, nicht bloß Nutzungsintensität.


Merkmal

Influencer Illness

Social Media-Sucht

Internet-abhängigkeit

Fokus der Abhängigkeit

Einzelne Influencer, parasoziale Beziehung

Plattform allgemein (z. B. Instagram, TikTok)

Internet insgesamt (z. B. Gaming, Surfen, Chats)

Art der Bindung

Emotional, kognitiv, identitätsbezogen

Nutzungsverhalten, Gewohnheit

Kompensation, Eskapismus

Zentrales Merkmal

Überidentifikation, Realitätsverzerrung, unkritische Übernahme

Kontrollverlust, Zeitverzerrung

Entzugssymptome, Vernachlässigung anderer Lebensbereiche

Motivationsstruktur

Zugehörigkeit, Selbstwert, Idealisierung

Unterhaltung, Anerkennung, Langeweile

Flucht, Selbstregulation, Reizsuche

Beziehungsdimension

Beziehung zu medialem Vorbild (einseitig, illusorisch)

Virtuelle Interaktion mit Community

Oft anonym oder spielbezogen

Ursächlicher Auslöser

Strategische Inszenierung, algorithmische Verstärkung

Reizüberflutung, Belohnungs-mechanismen

Verfügbarkeit, fehlende soziale Kontrolle

 

Tabelle 1: Vergleichstabelle Influencer Illness (Eigene Darstellung)


Theoretische Fundierung und konzeptionelle Verortung
Die Theorie der „Influencer Illness“ lässt sich durch mehrere medien- und sozialpsychologische Konzepte untermauern:

  • Die Illusion der Nähe: Horton und Wohl beschreiben die Illusion einer persönlichen Beziehung zu Medienfiguren – eine Dynamik, die sich heute besonders im Verhältnis zwischen Followern und Influencern beobachten lässt.  Diese führt zu einer scheinbaren Nähe und erschwert die rationale Distanzierung: „Die parasoziale Interaktion ist eine scheinbar face-to-face Beziehung zwischen Zuschauer und Performer, die durch die Illusion von Intimität und Reziprozität gekennzeichnet ist“ (Horton & Wohl, 1956, S. 215).
  • Uses-and-Gratifications-Ansatz: Katz et al. betonen, dass Rezipienten Medieninhalte aktiv nutzen, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen: „Der Uses-and-Gratifications-Ansatz betrachtet das Publikum als aktive Teilnehmer, die Medieninhalte auswählen, um spezifische Bedürfnisse zu befriedigen“ (Katz et al., 1973, S. 509). Bei „Influencer Illness“ verkehrt sich diese ursprünglich zielgerichtete Mediennutzung jedoch ins Gegenteil: Die Inhalte werden nicht mehr bewusst und kritisch konsumiert, sondern dienen zunehmend einer unreflektierten Bedürfnisbefriedigung.
  • Mere-Exposure-Effekt: Ein weiterer Risikofaktor für die Entwicklung abhängiger Rezeptionsmuster liegt in der algorithmisch gesteuerten Wiederholung von Content auf sozialen Plattformen (z. B. Bilder, Worte, Marken), die eine gesteigerte Wahrnehmung von Vertrautheit erzeugt. Dabei kommt der Mere-Exposure-Effekt zum Tragen – ein psychologisches Phänomen, bei dem allein die wiederholte Darbietung eines Reizes dessen positive Bewertung begünstigt (Zajonc, 1968, S. 1–27).
  • Soziale Kognitive Theorie: Laut Bandura lernen Menschen durch Beobachtung medialer Vorbilder. Verhaltensweisen werden intern repräsentiert und dienen später als Handlungsleitfaden: „Menschen lernen durch Beobachtung anderer; sie formen Vorstellungen darüber, wie neue Verhaltensweisen ausgeführt werden [...]“ (Bandura, 1986, S. 22).
  • Psychische Belastung: Fiske (2010) interpretiert parasoziale Beziehungen in solchen Konstellationen nicht als entlastende soziale Ressource, sondern vielmehr als potenzielle psychische Belastung. Besonders in Kontexten, in denen soziale Vergleiche dominieren, kann der dauerhafte Konsum idealisierter Selbstdarstellungen zu emotionaler Erschöpfung, Neidgefühlen oder einem verminderten Selbstwertgefühl führen.
  • Influencer als Identifikationsfiguren: Tukachinsky (2010) weist darauf hin, dass Influencer insbesondere für Personen in entwicklungspsychologisch sensiblen Lebensphasen als Identifikationsfiguren fungieren können. Zugleich warnt er davor, dass eine übermäßige Intensität parasozialer Beziehungen mit potenziell negativen Folgen wie gefühlsgeleitete Abhängigkeit und einer Verzerrung des Selbstbildes einhergehen kann.
  • Fear of Missing Out (FOMO): Przybylski et al. beschreiben FOMO als die anhaltende Angst, bedeutsame Erfahrungen zu verpassen, insbesondere solche, die durch Influencer vermittelt werden: „FOMO ist definiert als die allgegenwärtige Sorge, dass andere lohnende Erfahrungen machen, von denen man selbst abwesend ist“ (Przybylski et al., 2013, S. 1841).
  • Parasoziale Interaktion und Privatsphäre-Illusion: Labrecque (2014) betont, dass Follower häufig der Annahme unterliegen, privilegierte Einblicke in das Privatleben von Influencern zu erhalten, obwohl diese Inhalte in Wirklichkeit einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden und somit keine Exklusivität im eigentlichen Sinne besteht.


Beziehungsdynamiken: Zwischen emotionaler Nähe, parasozialer Interaktion und strategischer Beeinflussung
Aufbauend auf der emotionalen Nähe und der parasozialen Interaktion, die vielfach als Beziehung erlebt wird, obwohl sie strukturell einseitig bleibt, erscheint aus Sicht des Autors insbesondere die strategische Sichtbarkeit von Influencern problematisch. Diese treten gezielt und selektiv in Erscheinung, kontrollieren die Kommunikation und bleiben zugleich anonym oder distanziert. Die so erzeugte Illusion von Gegenseitigkeit verstärkt die Wahrnehmung von Nähe, obwohl tatsächliche Interaktion kaum stattfindet.

Besonders kritisch ist dabei die identitätsstiftende Einbindung von Followern in Communities oder Fandoms zu bewerten. Das damit verbundene Gemeinschaftsgefühl basiert häufig auf inszenierten, nicht authentischen Interaktionen und kann sich bei genauem Blick als fragiles Konstrukt erweisen. In sozialen Vergleichsprozessen mit idealisierten Darstellungen führt dies nicht selten zu Neidgefühlen, emotionaler Frustration oder einer Minderung des Selbstwerts.

Hinzu kommt, dass Influencern oftmals ein subjektiver Nutzen oder gar Autorität zugeschrieben wird – etwa im Bereich Lifestyle, Gesundheit oder Finanzen –, ohne dass ihre fachliche Qualifikation kritisch hinterfragt wird. Diese unreflektierte Zuschreibung von Expertise kann die parasoziale Bindung vertiefen und die Entwicklung irrationaler oder gesundheitskritischer Verhaltensmuster begünstigen.


Ein neuer Erklärungsansatz: Parasoziale Überidentifikation und Wahrnehmungsverzerrung
Die „Influencer Illness“ beruht weniger auf der Häufigkeit der Mediennutzung als auf der gefühlsbezogenen Tiefe der Bindung zu Influencern. Inhalte werden nicht mehr rational geprüft, sondern emotional internalisiert – was zu einer verzerrten Wahrnehmung von Relevanz und Wahrheit führt.

Influencer werden als nahbar und glaubwürdig empfunden, obwohl ihre Interaktionen oft strategisch und kommerziell motiviert sind. Die simulierte persönliche Nähe ist aber Teil geplanter Kommunikationsstrategien zur Meinungs- und Konsumbeeinflussung.
Zudem suggeriert die algorithmisch gesteuerte Präsenz bestimmter Reize Nähe und Bekanntheit, was zu einer überhöhten Bewertung führen kann – unabhängig vom realen Aussagewert.

Viele Follower übernehmen unreflektiert die Ansichten und Lebensstile ihrer bevorzugten Influencer. Die eigene Identität wird zunehmend über Community-Zugehörigkeit definiert, was die psychische Abhängigkeit verstärken kann. Diese Gruppenzugehörigkeit vermittelt zwar soziale Einbindung, basiert jedoch häufig auf inszenierter Interaktion und ist daher instabil.


Soziale Folgen und individuelle Risikofaktoren
Der soziale Vergleich mit idealisierten Darstellungen fördert Neid, Frustration und ein vermindertes Selbstwertgefühl. Gleichzeitig wird oft übersehen, dass Influencer keine fachliche Qualifikation für viele ihrer Inhalte besitzen. Emotionale Glaubwürdigkeit ersetzt dabei faktische Autorität.

In der Folge werden Inhalte weniger auf ihren Wahrheitsgehalt als auf ihre soziale Funktion innerhalb der Community hin bewertet. Kritik wird gemieden, um nicht aus dem Gruppenkonsens auszubrechen.

Die Fähigkeit zur kritischen Mediennutzung leidet dort, wo die Unterscheidung zwischen:

  • manipulativen Inhalten (emotionalisierend, kommerzialisiert),
  • und faktenbasierter Aufklärung (reflektiert, transparent)

nicht mehr gelingt – etwa bei geringer Medienkompetenz oder starker innerlich bewegter Identifikation. Diese Dynamik untergräbt langfristig die Fähigkeit zur autonomen Meinungsbildung und erhöht die psychische Anfälligkeit gegenüber externen Einflüssen.


Zwischen Mediennutzung und Krankheitsbild – Eine Bewertung der ‚Influencer Illness“
Die „Influencer Illness“ ist bislang keine offiziell anerkannte Diagnose – weder im ICD-11 (International Classification of Diseases, 11th Revision, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation) noch im DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th Edition, herausgegeben von der American Psychiatric Association). Dennoch weist das Phänomen symptomatische Überschneidungen mit klinisch relevanten Störungsbildern wie Abhängigkeitserkrankungen, Angststörungen oder Zwangsstörungen auf.

Der Begriff Illness ist daher nicht ausschließlich im medizinischen Sinn zu verstehen, sondern im weiteren soziokulturellen Kontext – als Ausdruck eines gestörten Verhältnisses zwischen Individuum und digitaler Informationskultur.

Eine vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der „Influencer Illness“ sollte psychologische, neurologische und gesellschaftstheoretische Perspektiven integrieren – mit dem Ziel, tragfähige diagnostische Kriterien zu entwickeln. Die konzeptuelle Etablierung des Begriffs kann somit ein Ausgangspunkt für weiterführende empirische Forschung und klinische Klassifikation im Spannungsfeld von Digitalität, Identität und Abhängigkeit sein.


Literaturverzeichnis
Bandura, A. (1986). Social foundations of thought and action: A social cognitive theory. Prentice-Hall.

Fiske, S. T. (2010). Envy up, scorn down: How status divides us. American Psychologist, 65(8), 774–775. https://doi.org/10.1037/a0029874

Horton, D., & Wohl, R. R. (1956). Mass communication and para-social interaction: Observations on intimacy at a distance. Psychiatry, 19(3), 215–229. https://doi.org/10.1080/00332747.1956.11023049

Katz, E., Blumler, J. G., & Gurevitch, M. (1973). Uses and gratifications research. The Public Opinion Quarterly, 37(4), 509–523. https://doi.org/10.1086/268109

Labrecque, L. I. (2014). Fostering consumer–brand relationships in social media environments: The role of parasocial interaction. Journal of Interactive Marketing, 28(2), 134–148. https://doi.org/10.1016/j.intmar.2013.12.003

Przybylski, A. K., Murayama, K., DeHaan, C. R., & Gladwell, V. (2013). Motivational, emotional, and behavioral correlates of fear of missing out. Computers in Human Behavior, 29(4), 1841–1848. https://doi.org/10.1016/j.chb.2013.02.014

Tukachinsky, R. (2010). Para-romantic love and para-friendships: Development and assessment of a multiple-parasocial relationships scale. American Journal of Media Psychology, 3(1–2), 73–94. https://digitalcommons.chapman.edu/comm_articles/19/

Zajonc, R. B. (1968). Attitudinal effects of mere exposure. Journal of Personality and Social Psychology, 9(2), 1–27. https://doi.org/10.1037/h0025848