Wissensbank für Medien & Kommunikation

„Election Disruption“ – ein neues Phänomen der politischen Kommunikation.

von Prof. Dr. Alfred-Joachim Hermanni

18.02.2025


1. Abstract
Politische Wahlen sind zunehmend anfällig für unerwartete Ereignisse, die den Wahlkampf und die Wählerpräferenzen maßgeblich beeinflussen können. (Iyengar & Kinder, 1987; Druckman, 2001) Das Konzept der Election Disruption beschreibt solche externen Störungen, die durch Krisen, Skandale oder sicherheitspolitische Entwicklungen ausgelöst werden. Anhand historischer Fallstudien aus Deutschland, Frankreich, Österreich und Australien zeigt dieser Beitrag auf, wie Wahlprozesse durch plötzliche Ereignisse dynamisiert werden. Dabei wird die Rolle von Medien, politischer Strategie und öffentlicher Wahrnehmung in Zeiten von Election Disruption analysiert. Zudem wird der Begriff von der "October Surprise" im US-amerikanischen Kontext abgegrenzt, um die globale Relevanz dieses Phänomens zu unterstreichen.

2. Schlüsselwörter
Election Disruption; Politische Kommunikation; Wahlkampf; Wahlsoziologie; Krisenforschung; Medienwirkung

3. Definition: Election Disruption beschreibt ein unvorhergesehenes Ereignis, das den Verlauf und das Ergebnis politischer Wahlen erheblich beeinflussen kann. Solche Ereignisse können in Form von Terroranschlägen, politischen Skandalen, Naturkatastrophen oder Gesundheitskrisen auftreten und die öffentliche Wahrnehmung sowie das Wählerverhalten signifikant verändern. (Benoit, 1997; Wirth & Stegmaier, 2000)

4. Theoretische Einordnung: Der Begriff „Election Disruption“ lässt sich in den Forschungsbereich der Wahlsoziologie, politischen Kommunikationsforschung und Krisenforschung einordnen. (Meier & Richter, 2010)  Er kennzeichnet externe Störungen und Turbulenzen im Wahlprozess, die die Dynamik eines Wahlkampfs verändern und das Wählerverhalten beeinflussen können.

5. Konsequenzen:  Die öffentliche Meinung kann durch ein plötzliches disruptives Wahlkampfereignis in eine bestimmte Richtung verschoben werden. Solche Ereignisse können zu einer Neugewichtung politischer Themen, einer veränderten Wahrnehmung politischer Akteure oder einer veränderten Wahlbeteiligung führen.

6. Aktuelles Beispiel (2025): Außenpolitische Dynamik vor der Bundestagswahl.
Die Erklärung des US-Vizepräsidenten J.D. Vance am 14. Februar 2025 in München, wonach europäische Staaten von den Verhandlungen mit Russland ausgeschlossen bleiben sollen und eine strikte Abgrenzungspolitik gegenüber politischen Gegnern („Brandmauern“) nicht vorgesehen ist, hatte kurz vor der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 Auswirkungen auf den Wahlkampf. (Handelsblatt, 2025) Unmittelbar vor der Wahl sahen sich die Kanzlerkandidaten gezwungen, ihre außenpolitischen Positionen neu zu formulieren und ihre Handlungsfähigkeit in diesem geopolitischen Kontext gegenüber den deutschen Wahlberechtigten zu betonen. Die sicherheitspolitische Debatte erlangte dadurch kurzfristig eine zentrale Bedeutung im Wahlkampf.

7. Weitere Fallbeispiele für "Election Disruption" im Vorfeld politischer Wahlen:
(1) Deutschland 2025: Terroranschläge vor der Bundestagswahl
Kurz vor der Bundestagswahl im Frühjahr 2025 sah sich die deutsche Politik mit einer Serie von Terroranschlägen in Magdeburg, Aschaffenburg und München konfrontiert. Diese Attentate, bei denen auch Kinder zu den Opfern zählten und die von Tätern mit Migrationshintergrund verübt wurden, lösten intensive politische Debatten aus. Die Parteien sahen sich gezwungen, ihre Wahlkampfthemen kurzfristig anzupassen, insbesondere in den Bereichen Migrationspolitik und innere Sicherheit, was potenziell Auswirkungen auf das Wählerverhalten haben dürfte.

(2) Frankreich 2022: McKinsey-Skandal und Präsidentschaftswahl
Im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahl im April 2022 geriet Präsident Emmanuel Macron durch Berichte über die extensive Nutzung von Beratungsfirmen wie McKinsey unter Druck. Diese Enthüllungen führten zu öffentlichen Debatten über die Rolle externer Beratungsunternehmen in der Regierung. Macron sah sich gezwungen, seinen Wahlkampf strategisch anzupassen, um das Vertrauen der Wähler zurückzugewinnen.

(3) Deutschland 2021: Hochwasserkatastrophe und Bundestagswahl
Zwei Monate vor der Bundestagswahl im Juli 2021 kam es in West- und Süddeutschland zu einer der verheerendsten Überschwemmungskatastrophen in der Geschichte des Landes. Die politische Reaktion unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Kanzlerkandidaten wurde intensiv diskutiert. Besonders Armin Laschet, Kanzlerkandidat der CDU/CSU, stand im Fokus der Medien. Die Katastrophe lenkte den Wahlkampf auf Klimapolitik und Krisenmanagement, was die Wahlentscheidung beeinflusst haben könnte.

(4) Australien 2020–2021: COVID-19-Pandemie und Wahlen in Bundesstaaten
Zwischen 2020 und 2021 fanden in mehreren Bundesstaaten Australiens Wahlen statt. Diese ereigneten sich während der globalen COVID-19-Pandemie, nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 30. Januar 2020 den weltweiten Gesundheitsnotstand ausgerufen hatte. Regierungen, die als besonders kompetent im Pandemiemanagement wahrgenommen wurden, konnten politisch profitieren und sich Wahlerfolge sichern.

(5) Österreich 2019: Ibiza-Affäre und Europawahl
Im Mai 2019, wenige Tage vor der Europawahl, wurde ein heimlich aufgenommenes Video veröffentlicht, das den damaligen Vizekanzler und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache dabei zeigte, wie er einer vermeintlichen russischen Oligarchin staatliche Aufträge im Gegenzug für Wahlkampfhilfe anbot. Die sogenannte „Ibiza-Affäre“ führte zu seinem Rücktritt und zum Zerbrechen der Regierungskoalition. Die FPÖ erlitt bei der Europawahl einen Stimmenverlust, wobei jedoch der genaue Einfluss des Skandals auf das Wahlergebnis nicht abschließend geklärt ist.

8. Abgrenzung zu „October Surprise“

Ein verwandtes, aber nicht identisches Phänomen ist „October Surprise“, das während der US-Präsidentschaftswahl 1980 durch den Politikberater William Casey geprägt wurde. Dieser Begriff wurde im Kontext der Iran-Geiselkrise verwendet, die den Wahlkampf zwischen Jimmy Carter und Ronald Reagan beeinflusste.

Unterschiede zwischen „Election Disruption“ und „October Surprise“

Kriterium

October Surprise

Election Disruption

Zeitliche Begrenzung

Ereignisse ausschließlich im Oktober vor einer US-Präsidentschaftswahl.

Zeitlich nicht gebunden und kann jederzeit vor einer Wahl auftreten, einschließlich des Wahlkampfs, der Wahlorganisation und der Wahlentscheidung selbst.

Geografische Reichweite

Beschränkt sich auf politische Entwicklungen im amerikanischen Wahlkampf.

Global anwendbar, unabhängig vom politischen System.

Art der Ereignisse

Meist plötzliche Enthüllungen oder mediale Skandale, die kurzfristig den Wahlkampf beeinflussen (z.B. FBI-Ermittlungen gegen Clinton 2016 oder die Veröffentlichung eines Dokuments von Sonder-ermittler Jack Smith im Oktober 2024 mit neuen Details zu Trumps Einflussversuchen auf das Wahlergebnis 2020).

Schließt ein breiteres Spektrum ein, darunter Terroranschläge, Natur-katastrophen, wirtschaftliche Krisen oder geopolitische Spannungen, die langfristige Auswirkungen auf den Wahlprozess haben können.

Mediale Aufmerksamkeit

Oft kurzlebig, intensive mediale Berichterstattung.

Kann langfristige politische Dynamiken verändern.

Quelle: Eigene Angaben.

9. Fazit
Während der Begriff "October Surprise" auf kurzfristige Enthüllungen im US-amerikanischen Wahlkampf beschränkt ist, beschreibt "Election Disruption" ein breiteres Phänomen, das weltweit und langfristig Wahlen beeinflussen kann. Dazu zählen sicherheitspolitische Krisen, Naturkatastrophen oder politische Skandale, die Wahlstrategien und Wählerpräferenzen tiefgreifend verändern können. Derartige Ereignisse können nicht nur die öffentliche Debatte dominieren, sondern auch politische Akteure dazu zwingen, ihre Kampagnenführung kurzfristig anzupassen. Die Dynamik von Election Disruption zeigt, dass Wahlprozesse in hohem Maße von externen Faktoren abhängig sind, die über klassische politische Strategien hinausgehen. Zudem wird deutlich, dass mediale Berichterstattung eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob und in welchem Umfang eine Disruption langfristige Auswirkungen auf Wahlergebnisse hat. Letztlich verdeutlicht dieses Phänomen die Fragilität demokratischer Wahlkämpfe gegenüber unvorhersehbaren Ereignissen und deren potenziellen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse.

10. Empfehlung für zukünftige Forschung: Strategische Wahlkampfdisruption und digitale Manipulation
Die Untersuchung von Election Disruption zeigt, dass Wahlkampfstörungen nicht ausschließlich externe, zufällige Ereignisse sind, sondern in vielen Fällen gezielt von politischen Akteuren genutzt oder sogar aktiv herbeigeführt werden. Insbesondere zwei Aspekte verdienen in der zukünftigen Forschung verstärkte Aufmerksamkeit:

1. Strategische Veröffentlichung belastenden Materials („Timed Leaks“) als Wahlkampfstrategie
Ein wiederkehrendes Muster in Wahlkämpfen ist die gezielte Veröffentlichung belastender Informationen über politische Gegner zu strategisch günstigen Zeitpunkten. Diese sogenannten Timed Leaks oder Oktoberüberraschungen haben das Potenzial, die Wählermeinung in entscheidenden Wahlphasen zu beeinflussen und die Dynamik eines Wahlkampfes grundlegend zu verändern.

Wichtige Forschungsfragen in diesem Zusammenhang sind:
• Welche Mechanismen und Akteure sind an der gezielten Platzierung von belastendem Material im Wahlkampf beteiligt?
• Gibt es wiederkehrende Muster in der zeitlichen Steuerung solcher Veröffentlichungen?
• In welchem Umfang beeinflussen solche Enthüllungen die Wahlentscheidung tatsächlich – kurzfristig und langfristig?
• Welche Rolle spielen traditionelle Medien im Gegensatz zu sozialen Netzwerken bei der Verbreitung und Verstärkung von Timed Leaks? (Meier & Richter, 2010)
• Lassen sich bestimmte Wahlkampfsysteme oder politische Kulturen identifizieren, in denen diese Strategie besonders häufig oder effektiv eingesetzt wird?

2. Digitalisierte Manipulationsstrategien und Einflussnahme durch externe Akteure
Die zunehmende Digitalisierung politischer Kommunikation hat neue Möglichkeiten geschaffen, Wahlkämpfe gezielt zu beeinflussen – sowohl durch inländische Akteure als auch durch ausländische Staaten. Der gezielte Einsatz von Social Bots, Deepfakes, Desinformationskampagnen und personalisierten politischen Werbeanzeigen („Microtargeting“) kann gezielt genutzt werden, um öffentliche Debatten zu steuern oder Wahlentscheidungen zu beeinflussen. (Allcott & Gentzkow, 2017; Woolley & Howard, 2018; Marwick, 2018)

Besonders relevant für die zukünftige Forschung sind folgende Fragen:
• In welchem Umfang haben ausländische Akteure in vergangenen Wahlkämpfen digitale Strategien genutzt, um Wahlergebnisse zu beeinflussen?
• Welche Rolle spielen Social Bots und algorithmengesteuerte Nachrichtenverbreitung bei der Verstärkung oder Dämpfung von Election Disruption?
• Lassen sich staatliche Akteure nachweisen, die systematisch in Wahlkämpfe anderer Länder eingreifen? Falls ja, mit welchen Methoden?
• Welche technologischen Entwicklungen (z. B. Deepfake-Videos, KI-generierte Fake News) könnten in zukünftigen Wahlkämpfen eine noch größere Rolle spielen?
• Welche Gegenmaßnahmen sind erforderlich, um demokratische Wahlen vor gezielter Manipulation zu schützen?

Quellenverzeichnis

Allcott, H., & Gentzkow, M. (2017). Social Media and Fake News in the 2016 Election. Journal of Economic Perspectives, 31(2), 211–236.
Benoit, W. L. (1997). Image Repair Discourse and Crisis Communication. Public Relations Review, 23(2), 177–186.
Druckman, J. N. (2001). The implications of framing effects for citizen competence. Political Behavior, 23(3), 225–256.
Handelsblatt (14.02.2025). J. D. Vance. Die Münchener Rede des US-Vizepräsidenten im Wortlaut. https://www.handelsblatt.com/politik/international/j-d-vance-die-muenchener-rede-des-us-vizepraesidenten-im-wortlaut/100107881.html
Iyengar, S., & Kinder, D. R. (1987). News That Matters: Television and American Opinion. University of Chicago Press.
Marwick, A. E. (2018). Media Manipulation and Disinformation Online. Data & Society Research Institute.
Meier, M., & Richter, F. (2010). Medienmanipulation und Wahlkampf: Der Fall "October Surprise". Zeitschrift für Politikwissenschaft, 20(2), 112–134.
Wirth, W., & Stegmaier, R. (2000). Politische Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag.
Woolley, S., & Howard, P. N. (2018). Computational Propaganda: Political Parties, Politicians, and Political Manipulation on Social Media. Oxford University Press.