Personal Sustainability. Eine Petition für individuelle Bedürfnisse der Gegenwart.
Von Prof. Dr. Alfred-Joachim Hermanni
16.07.2022
Das Buch ist über folgenden SpringerLink abrufbar: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-37989-6
Die menschliche Existenz wird bei Nachhaltigkeitsfragen meist nur theoretisch abgehandelt, als würde der Mensch als Einzelwesen mit seinen Ansprüchen und Besonderheiten eine untergeordnete Rolle bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen spielen. Um auf ein breites Interesse für die UN-Nachhaltigkeitsziele bei der Mehrheitsgesellschaft zu stoßen, ist es erforderlich, gerade auch die Bedarfe der größten sozialen Bevölkerungsschichten in die Agenda einzubinden und an den Sustainable Development Goals partizipieren zu lassen. Dieses Buch setzt sich mit der neuen Dimension „Personal Sustainability“ (als vierte Dimension neben ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit) und den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen auseinander.
Der Inhalt des Buchs:
- Konzept und Bedeutung der Dimension „Persönliche Nachhaltigkeit“
- Gerechtigkeit als Grundprinzip nachhaltigen Wirkens
- Wahrung der Interessen von Einzelpersönlichkeiten
- Sinnhaftigkeit im gesellschaftspolitischen Nachhaltigkeitsdiskurs
- Funktionieren nachhaltige Ziele überhaupt?
- Nachhaltigkeitserwartungen der Generationen Y und Z
Was versteht man unter der Dimension "Persönliche Nachhaltigkeit"? (Auszug aus dem Buch)
Das globale Projekt um ein menschenwürdiges Leben, eine intakte Umwelt und eine wertschätzende soziale Gesellschaft benötigt einen ganzheitlichen Blick. Manche sehen darin zugleich eine Chance und Herausforderung für alle wissenschaftliche Disziplinen, Nachhaltigkeit in Zusammenhängen zu analysieren, kontinuierlich zu hinterfragen und sachgerecht zu dokumentieren.
In allen Ehren ist jedoch nicht nur die Wissenschaft gefordert, sondern jeder Einzelne: Bewusst selbstdenkende Subjekte, die unter Einbeziehung werteorientierter und moralischer Aspekte Dinge kritisch beleuchten, nachhaltige Entdeckungen generieren, Empfehlungen aussprechen und umweltgerecht handeln. Das darf nicht überraschen, denn jedes Individuum steht in der hochnotwichtigen Pflicht, seinen Beitrag für das komplexe Ganze zu leisten, denn wir alle sind von den erheblichen und zugleich vielschichtigen Auswirkungen betroffen.
Die Kognitionspsychologie lehrt, dass Menschen individuelle Werte durch ihre Ansichten und Handlungen erlangen. Man argumentiert beziehungsweise führt etwas aus zum Selbstzweck, ausgelöst durch eine intrinsische Motivation. Dergestalt können aus eigenem Antrieb bspw. eigenständige, umweltfördernde Perspektiven verfolgt werden. Worauf ich damit hinauswill, ist aber, dass ich nicht neuen Wein in alte Schläuche füllen möchte, sondern die Nachhaltigkeitsdiskussion auf eine bisher unberücksichtigte, aber gravierende und zugleich unverzichtbare Einstellungsebene bringen: die Dimension „persönliche Nachhaltigkeit“. In dieser Hinsicht thematisiert diese Arbeit die Frage, warum Individuen eine gravierende Bedeutung für den Erfolg oder Misserfolg der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zur Ressourcen-Nutzung haben.
Andere Optionen erscheinen als folgenschwere Zeitverschwendung, insbesondere über kollektive Anreizsysteme die Mutter Erde retten zu können. Solange der Einzelne nicht persönlich angesprochen und einbezogen wird, kann der Wettlauf gegen die Zeit nicht aufgehen. Oder, um es in Anlehnung an Theodor Adorno (1903-1969) auszudrücken, dass im falschen Korsett der Nachhaltigkeit ein richtiges Handeln nicht möglich sei. Bei Adorno heißt es im Original: „[…] dass nämlich im falschen Leben ein richtiges nicht möglich sei.“
Das existenzielle Schlüsselwort für die nachhaltige Querschnittsherausforderung lautet: Partizipation. Die bisherigen Ergebnisse der UN-Nachhaltigkeitsziele lassen fatalerweise den Rückschluss zu, dass es eines Tages zu der ohnmächtigen Ansage kommen kann: Rien ne va plus. Meines Erachtens ist es illusorisch zu erwarten, dass sich ein weltumspannendes Nachhaltigkeitsnetzwerk von annähernd acht Milliarden Menschen in einer Wertegemeinschaft zusammenfindet, wenn dabei nicht eine Mehrheit von Erdenbürgern aus Afrika, Antarktis, Asien, Australien, Europa, Süd- und Nordamerika persönlich impliziert sind. In einzelnen Fällen – sprich Organisationen – mag das Kollaborative gelingen. Aber nicht, wenn aus den Nachhaltigkeitszielen eine universale Solidaritätsbewegung entstehen soll.
Ich werde meine Einschätzung an einem Beispiel veranschaulichen. Die Vereinten Nationen sind selbstgewiss, dass die Vision einer nachhaltigen Wirtschaft umgesetzt wird, weil neunzehntausend Unternehmen aus 170 Ländern der Global Compact-Initiative beigetreten sind.¹ Dieses Resultat wirft allerdings die Frage auf, wie diese Initiative von sich selbst überzeugt sein kann, wenn die Datenbank ORBIS weltweit mehr als 400 Millionen börsennotierte und nicht-börsennotierte Unternehmen und Entitäten auflistet, also die einundzwanzigtausendfache Zahl der bisher erreichten UN-Partnerunternehmen.² Habe ich Ihre Aufmerksamkeit gewonnen?
¹ Vgl. Global Compact Netzwerk Deutschland (o.J.). Global Compact Netzwerk Deutschland (o.J.). United Nations Global Compact. https://www.globalcompact.de/ueber-uns/united-nations-global-compact. Abgerufen am 03.04.2022.
² Vgl. Orbis (o.J.). Übersicht – Orbis ist die Ressource für Unternehmensdaten. https://www.bvdinfo.com/de-de/unsere-losungen/daten/international/orbis. Abgerufen am 05.01.2022.