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Rolle der sozialen Medien im Bundestagswahlkampf 2021.

Von Prof. Dr. Alfred-Joachim Hermanni

20.09.2021

Am 20. September 2021 interviewte mich die Nachrichtenagentur Thomson Reuters zur Rolle der sozialen Medien im Bundestagswahlkampf (die Wahl fand am 26. September statt). Nachstehend können Sie gern den Wortlaut des Gesprächs nachlesen.

Thomson Reuters: Ein enormer Unterschied zwischen dieser Bundestagswahl und der Wahl 2016 (oder der Europa-Wahl 2019) besteht darin, dass die Corona-Pandemie die Fähigkeit der Kandidaten, Massenveranstaltung abzuhalten, deutlich eingeschränkt hat. Hat die Pandemie Ihrer Meinung nach die digitalen Wahlkampfstrategien der großen Parteien in irgendeiner Weise spürbar verändert? Sind die Parteien also gezwungen, mehr Ressourcen in das Online-Schlachtfeld zu investieren?

Hermanni: Bedingt durch die COVID-19 Pandemie und die damit verbundene Homeoffice-Situation haben die Bundesbürger intensiv und mehrmals täglich das Internet genutzt. Das zeigt sich auch dadurch, dass die Zahl der Internetnutzer in 2020 auf 60,39 Millionen stieg (plus 860.000 im Vergleich zum Vorjahr; vgl. AGOF Report 2020). Nachdem es sich laut aktueller Trends um ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden großen Parteien im Hinblick auf mögliche Koalitionen handelt, wurden in jüngster Zeit zusätzliche Ressourcen in die digitale Wahlwerbung gesteckt.

Thomson Reuters: Welche Partei(en) hat/haben Ihrer Meinung nach bisher die effektivste Online-Kommunikationsstrategie? Fallen Ihnen irgendwelche konkreten Beispiele für wirklich gelungene digitale Taktiken ein?

Hermanni: Weitgehend konsistent waren in der Vergangenheit lediglich die Online-Kommunikationsstrategien von Bündnis 90/Die Grünen und der FDF, die sich überwiegend der Umweltpolitik beziehungsweise liberalen Werten widmen.  So überrascht nicht, dass die kleineren Oppositionsparteien eine größere Followerschaft auf den sozialen Plattformen verzeichnen als CDU und SPD. Seit Anfang September scheinen auch die anderen Parteien aus ihrem Dornröschenschlaf aufgewacht zu sein, um die Wähler:innen zu mobilisieren. Die Erkenntnis bei SPD und CDU/CSU kommt jedoch wahrscheinlich zu spät, um Unschlüssige zu überzeugen. Gleichwohl werden Themen endlich auf den Punkt gebracht und Inhalte scharf zugespitzt. Auffällig ist, dass sich der Ton in der politischen Auseinandersetzung verschärft hat und einzelne Parteien davon ausgehen, dass sie mitregieren werden. So formuliert beispielsweise Bündnis 90/Die Grünen in einem Post: „Deshalb werden wir durchsetzen, dass sich die öffentliche Hand vollständig aus klimaschädlichen Investitionen zurückzieht.“

Thomson Reuters: Während der Debatten in traditionellen Medien wie dem Fernsehen setzen die Parteien gleichzeitig ihre Kommunikationsteams ein, um sich auf Plattformen wie Twitter gegeneinander zu konfrontieren bzw. ihre jeweilige Talking Points zu verbreiten. Was wollen sie damit erreichen und gibt es eigentlich ein Potenzial, die Wähler auf diese Weise zu beeinflussen?

Hermanni: Bei Twitter treffen wir in Deutschland vor allem User an, die zwischen 18 und 34 Jahre alt sind und sich überdurchschnittlich für neue Technologien, Produkte und Services aus den Bereichen Film, Musik und Gaming interessieren. Hier sind Experten-Meinungen statt politischer Statements gefragt. Zudem sind viele Twitter-User Medien- und Marketingmenschen, die von Berufs wegen bestens informiert sind. Insofern sehe ich bei Twitter nur ein beschränktes Potenzial zum Stimmenfang. Dennoch gilt: Die sozialen Medien können den Ausschlag über Sieg oder Niederlage der Parteien geben.

Thomson Reuters: Jüngere Generationen neigen offensichtlich dazu, audiovisuelle Medien eher über YouTube oder TikTok als über das Fernsehen zu konsumieren. Was tun die Parteien, um diese potenziellen Wähler - die in der Regel nicht so häufig zu den Urnen gehen wie ältere Generationen - über solche Plattformen anzusprechen? Tragen diese Bemühungen Früchte oder gibt es noch Verbesserungspotenzial?

Hermanni: Insbesondere bei YouTube, Facebook und Instagram werden Werbeanzeigen der Parteien geschaltet, um potenzielle Wähler:innen nach Geschlecht, Alter und Region zu erreichen. Die meisten Anzeigen buchten bisher die FDP, gefolgt von CDU und AfD. Wenn man sich die Aufrufe einzelner Parteienvideos im September anschaut, dann sind die Zahlen im Großen und Ganzen überschaubar und liegen von circa 200 bis maximal 40 000 Zuschauer. Wesentlich begehrter sind die Videos von Medieninstitutionen wie ARD, ZDF, Focus Online, Der SPIEGEL, Deutschlandfunk oder FAZ, die auf bis zu 1 Million Aufrufe kommen. Im Ausnahmefall zeigt das Engagement von SPD und AfD bei You Tube allerdings Wirkung: Bei wenigen, professionell gestalteten Videos erreichten die beiden Parteien zwischen 150 000 und 500 000 Menschen. Das mag bei den SPD-Videos vor allem daran liegen, dass keine Statements abgegeben, sondern politische Ziele anhand von Zahlen und Fakten kurz und allgemeinverständlich erläutert werden. Im Gegensatz dazu punktet die AfD mit scharfen, populistischen Reden ihrer Abgeordneten aus dem Bundestag.

Thomson Reuters: Der deutsche Youtuber Rezo hat vor kurzem ein weiteres Video seiner "Zerstörung"-Serie hochgeladen, das inzwischen mehr als 3,5 Millionen Aufrufe hat. Seine Zielgruppe scheint vor allem über das Thema Klimawandel besorgt zu sein. Warum sind seine Video-Essays so erfolgreich? Glauben Sie, dass politische Youtuber und Influencer einen spürbaren Einfluss auf Wahlentscheidungen haben?

Hermanni: Influencer sind in vielen Fällen zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und zu vertrauensvollen Ratgebern geworden, weil sie auch Einblicke in ihr Privatleben gewähren. Hinzu kommt, dass sie sich aktueller Themen annehmen, die bei ihrer Zielgruppe von Bedeutung sind. Politiker engagieren sich zumeist erst in Wahlkampfzeiten auf ihren Plattformen, was im Grunde genommen kontraproduktiv für die eigene Reputation ist. Umso mehr können Influencer bzw. YouTuber auf Wahlentscheidungen einen Einfluss ausüben, weil sie auch außerhalb von Wahlzeiten den Kontakt zu den Usern pflegen und ihre Communities seit Jahren bestehen.










Die Rolle der sozialen Medien im politischen Wahlkampf am Beispiel USA und im Vorfeld der Bundestagswahlen 2021 in Deutschland können Sie in der beigefügten Präsentation nachlesen.