Wissensbank für Medien & Kommunikation

New York Times (journalistische Richtlinien).

Prof. Dr. Alfred-Joachim Hermanni

1988



Das nachstehende Interview mit der New York Times wurde in folgendem Buch abgedruckt: Hermanni, A.-J. (November 1989). Fernsehnachrichten für Deutschland. Eine amerikanische Ausgabe? Bonn: Mittelstands-Verlagsgesellschaft, S. 177-199.





Vorwort:
Wie fängt man es in einem derart gigantischen Land wie den Vereinigten Staaten von Amerika am vernünftigsten an, einen Konsens von Grundprinzipien für den amerikanischen Journalismus aufzuspüren?
Ich habe es unzählige Male an den Hochschulen für Journalismus (wie zum Beispiel an der University of Columbia) und auch bei zahlreichen Fernseh- wie auch Rundfunkstationen (in New York und Washington D.C. ebenso wie in Texas, Nebraska oder Kalifornien) versucht, diese publizistische Richtschnur definitiv und schriftlich zu bekommen – ohne Erfolg.

Das liegt nicht daran, dass meine Gesprächspartner sie als ein ehernes Geheimnis betrachteten und für sich behalten wollten, sondern es gibt sie schlichtweg allgemeinverbindlich nicht. Die freien USA haben bisher mehr oder minder erfolgreich die Devise praktiziert: Regulation by Deregulation.

Natürlich haben einzelne Print-Medien oder Rundfunkanstalten interne Richtlinien für die journalistische Alltagsarbeit, aber sie werden halt eben je nach Situation flexibel gehandhabt und sind nur für den internen Dienstgebrauch. Wundern Sie sich deshalb nicht, wenn ich ausgerechnet die weltweit angesehenste Tageszeitung in Amerika „The New York Times“ um ein Interview gebeten habe, um hier auf hoher anerkannter Ebene die entsprechenden, hoffentlich wenigstens relativ allgemeingültigen verbindlichen Auskünfte zu erhalten.




Interview mit David R. Jones, Editor of National Editions (Redaktionsleiter der überregionalen Ausgabe), The New York Times

(Das Interview entstand im Jahr 1988 und wird hier in Auszügen festgehalten)


Hermanni: Herr Jones, an welchen journalistischen Richtlinien orientieren sich die Redakteure bei der New York Times?

Jones: Viele Menschen, die im Journalismus tätig sind, sind der Meinung, dass es vorgeschriebene ethische Grundregeln geben sollte. Der amerikanische Zeitschriftenverleger-Verband (American Society of News Paper Editors) hat beispielsweise einen solchen Ethik-Code bereits im Jahr 1923 festgelegt. Andere Zeitungen dagegen, wie zum Beispiel die Washington Post, der Philadelphia Enquirer und die Daily News, haben ihren eigenen Code. Viele andere Zeitungen, wie unter anderem die New York Times, haben nichts dergleichen.

Diejenigen, die einen solchen Ethik-Code generell ablehnen, argumentieren damit, dass über ähnliche Fragen von Fall zu Fall entschieden werden müsse und dass jeder Code so allgemein gehalten sein müsste, dass er dann wieder bedeutungslos werden würde. Außerdem würden festgeschriebene Codes gewisse Standards setzen, die dann von Gegnern bei Rechtsstreitigkeiten oder auch als Anfang einer Bewegung gegen staatliche Richtlinien benutzt werden könnten.

Auch wenn es keinen direkt vorgeschriebenen Code gibt, haben wir doch eine Reihe von niedergelegten Grundregeln, die in erster Linie mit Interessenskonflikten und derartigen Dingen zu tun haben. Ich bin der Meinung, dass es ethische Grundsätze gibt – ganz gleich ob es ein vorgeschriebenen Code gibt oder nicht –, nachdem sich die meisten verantwortungsbewussten Journalisten richten.


Hermanni: Aber wie sehen die Ethik-Regelungen für das konkrete journalistische Handel aus?

Jones: Ich glaube, dass verantwortungsbewusste Journalisten in diesem Land eine gemeinsame Verantwortung empfinden und dass sie grundsätzlich die konstitutionellen Prinzipien, auf denen die Gesellschaft basiert, beachten. Ich glaube auch, dass die erstrebenswertesten ethischen Ziele Wahrheit und Genauigkeit sein sollten. Objektivität ist ein weiterer Grundsatz, obwohl dies ein sehr trickreiches Wort ist. Häufig wird der Begriff Objektivität lächerlich gemacht, denn jeder Reporter oder Redakteur muss sein eigenes kulturelles Gepäck bei sich tragen. Ich glaube, ein besseres Wort für Aktivität ist Fairness. Die wichtigste Frage ist: Sind wir fair nach allen Seiten? Gestatten wir allen, ihre Meinung zu äußern? Bringen wir die Dinge in die richtige Perspektive, damit der Leser sich seine eigene Meinung bilden kann?


Hermanni: Nach ihren Ausführungen verfügt der Journalist über ein großen Freiraum bei seiner täglicher Arbeit. Unterstellen wir einmal, dass ein Redakteur gegen allgemein formulierte Grundregeln wie Wahrheit, Genauigkeit und Fairness verstoßen hat. Was passiert dann in Ihrer Redaktion?

Jones: Nun ja eine Menge davon hat mit Interessenskonflikten zu tun. Zum Beispiel haben wir Grundregeln Fall von Interessenskonflikten, die besagen, dass man keine Sache vertreten kann, an der man selbst ein besonderes Interesse hat. Man kann auch nicht mit Wertpapieren Aktienhandel, über die man gerade schreibt (Anmerkung: Insiderwissen). Man kann nicht über Organisation schreiben, denen man angehört usw. … Redakteure der Times sollten keine Werbung machen für Bücher, die von anderen geschrieben wurden. Es gibt eine Vorschrift, dass keine Geschenke angenommen werden dürfen. Man kann einfach keine wertvollen Geschenke von Nachrichten-Lieferanten oder Reisen oder Prämien für Storys annehmen.


Hermanni: Kennen Sie auch Richtlinien, die den Umgang mit Nachrichtenquellen regeln?

Jones: Wir bemühen uns, die Benutzung von unbekannten Quellen in einer Story zu vermeiden, es sei denn, es gibt absolut keine andere Möglichkeit. Und wenn es wirklich notwendig ist, versuchen wir zumindest zuzugeben, aus welcher Ecke die Nachricht kommt, wie zum Beispiel von Regierungsseite, einen Vertreter der Gewerkschaft, einen Bankbeamten usw. Wir sind besonders streng bei anonym übermittelten Direkt-Zitaten von oder über eine Person. Das finden wir nicht fair.
Wir haben auch Vorschriften gegen eine falsche Eigendarstellung. Ja, ich denke, dass die meisten Journalisten sich darin einig sind, dass Reporter sich nicht für jemand anderen ausgeben sollten, um eine gute Story zu erhaschen. Ich bin der Meinung, dass es die Ethik verlangt, sich als Reporter zu erkennen zu geben, wenn man Leute direkt nach Informationen befragt. Allerdings solle ein Reporter auch überall dorthin gehen können, wo ein gewöhnlicher Bürger hingegen kann – und zwar ohne sich als Reporter ankündigen zu müssen.


Hermanni: Würden Sie von ethischen Grundsätzen abrücken, wenn die Veröffentlichung der Story dem Wohle der Gesellschaft dienen könnte?

Jones: Die Antwort darauf ist ein unbedingtes Nein. Es ist sehr einfach, große Töne zu spucken, wenn man diese Dinge generell betrachtet. Ich glaube jedoch, der beste Weg einer Antwort auf solche Fragen zu finden, ist bestimmte Beispiele anzuführen. Es macht keinen Sinn, ethische Prinzipien zu haben, die nur als Aushängeschild dienen und nicht angewendet werden. Mir scheint, dass wir sie haben, um sie bei schwierigen Entscheidungen anwenden zu können.
Wir halten nichts davon, ungesetzlich zu handeln, ich denke, dass war ihre Hauptfrage. Wir halten nichts davon, Beweismittel zu stehen, Telefone anzuzapfen oder uns in illegale Aktivitäten zu verwickeln, um andere unethische oder illegale Machenschaften aufzudecken. Wir glauben, es gibt ausreichend Platz in der amerikanischen Demokratie, um mit legalen und ethischen Mitteln zu arbeiten.


Hermanni: Nehmen die amerikanischen Medien im Allgemeinen eine neutrale Haltung gegenüber der US-Regierung ein, oder sind sie mehr kritisch oder gar feindlich eingestellt?

Jones: Nun, ich glaube, es war Josef Pulitzer, der einmal gesagt hat, dass die Aufgabe der amerikanischen Presse sei, den Angegriffenen zu helfen und die Bequemen anzugreifen. Der erste Zusatzartikel (Amendment) zur amerikanischen Verfassung legt fest, dass der Kongress nicht berechtigt ist, die Pressefreiheit einzuschränken. Es gibt eine lange historische Tradition in diesem Land, die die Unabhängigkeit der Presse von der Regierung aufzeigt. Die meisten Verantwortlichen in dieser Branche würden die verfassungsrechtlichen Prinzipien dieses Landes niemals angreifen.
Es gibt einige radikale Journalisten, die die Verfassung dieses Landes infrage stellen oder auch die Gesetze. Doch ich glaube, dass die meisten verantwortungsbewussten Journalisten in den USA die Verfassung unterstützen und einen ordentlichen Prozess zur Änderung der Verfassung nur dann gutheißen würden, wenn echte Probleme entstehen.
Doch wie gesagt, dies wäre dann eine intellektuelle Frage der Auslegung der Verfassung – wie man sie interpretiert und was im öffentlichen Interesse ist. Die Regierungsvertreter behaupten ja ständig, dass sie die einzigen Bewahrer der nationalen Sicherheit und des öffentlichen Interesses sein. Dem können wir nicht beipflichten.