Mediensystem Russland
von Prof. Dr. Alfred-Joachim Hermanni
Zur aktuellen Entwicklung des Mediensystems in Russland wurde ich im April 2022 u.a. von der Wochenzeitung “Südfinder” (Printauflage: 454 200) befragt. Nachstehend können Sie das Interview gern nachlesen.
Südfinder: Woher stammt diese andere Erwartungshaltung der Bevölkerung an die Medien in Deutschland (kritische Berichterstattung) und Russland (Presse vermittelt Meinung der Regierung)
Hermanni: In Deutschland sind durch das Grundgesetz die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film seit 1949 gewährleistet. Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Mit der staatlich unzensierten Veröffentlichung von Nachrichten und kritischen Meinungen haben sich die Bundesbürger vertraut gemacht und wollen nicht mehr darauf verzichten.
Ein völlig anderer Sachverhalt ergibt sich in Russland. Hier ist der staatliche Einfluss auf die Medien von exorbitantem Ausmaß, wobei die Berichterstattung vom Kreml aus gelenkt und überwacht wird. Über 70% der russischen Medien sind direkt oder indirekt in staatlicher Hand; die übrigen Medien verzichten bis auf eine kleine Minderheit auf eine kritische Berichterstattung und veröffentlichen nahezu ausschließlich regierungskonforme Informationen. Große Teile der russischen Bevölkerung sind mit der einseitigen Propaganda vertraut und haben sich über Generationen hinweg mit der parteiischen Informationspolitik angefreundet. Eine Umfrage der deutschen Körber-Stiftung in 2017 ergab, dass 76 Prozent aller befragten Russen die Auffassung vertreten, dass es Aufgabe der Medien sei, die Regierung in ihrer Arbeit zu unterstützen und deren Entscheidungen mitzutragen.
Südfinder: Wenn man die Situation vor dem Ukraine-Krieg mit der jetzigen vergleicht: Wie sehr haben sich Zensur, Propaganda und Falschmeldungen verändert, sowohl inhaltlich als auch in der Häufigkeit.
Hermanni: Psychologische Kriegsführung über Medien ist Bestandteil jedes mit und ohne Waffengewalt ausgetragenen Konfliktes zwischen Staaten. Zu diesem Zweck werden unterschiedliche Plattformen und Systeme genutzt, um Botschaften zu verbreiten.
Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges wird von staatlicher Seite noch schneller mit Verboten und der technischen Sperrung von Internetseiten durchgegriffen, wobei die betreffenden Medien, Journalisten oder Blogger zumeist als ausländische Agenten stigmatisiert und unter dem Vorwurf des Extremismus bestraft werden. Weil sie angeblich Falschnachrichten verbreiten, geht Russland insbesondere gegen unabhängige Radiostationen und TV-Sender vor. Die Medien- und Telekommunikationsaufsicht Roskomnadsor sperrte mehrere ausländische Medien, darunter die Deutsche Welle, Voice of America und die BBC. Sogar in öffentlichen Verkehrsmitteln werden die Handys von Passagieren kontrolliert, inwiefern sie regimekritische Fotos oder Nachrichten heruntergeladen haben. Eine Gegenöffentlichkeit bietet zwar noch das Internet, aber die Freiheit im Netz wird zusehends eingeschränkt.
Südfinder: In welcher Form könnten Zensur, Propaganda und Falschmeldungen Putins Staat angreifbar machen? Zumindest vom Großteil der eigenen Bevölkerung (70 Prozent) scheint ja erstmal keine Gefahr für Putins Staat auszugehen.
Hermanni: Während der Kriegsphase wird es lediglich geringen russischen Widerstand gegen einen autoritären Wladimir Putin geben. Man kann es auch so sagen: Der Überwachungsstaat ist im größten Land der Erde zu mächtig und allgegenwärtig aufgestellt und wird eine breitgefächerte kritische Berichterstattung nicht zulassen. Hinzu kommt, dass sich der Großteil der Bevölkerung noch von der Propagandawelle mittragen lässt.
Aber für den Fall, dass Putin seine Kriegsziele nicht annähernd erreicht, wird es in Russland zu größeren Demonstrationen kommen, an denen vor allem jüngeren Menschen wie Studierende, Blogger, Künstler und Medienschaffende beteiligt sein werden. In diesem Kontext kommen dann die Gräueltaten an unschuldigen Zivilisten sowie die Ermordung von Kindern und Frauen ebenso zur Sprache wie der unnötige Tod russischer Soldaten und die prekäre wirtschaftliche Lage in Russland. Infolgedessen wird die außerparlamentarische Opposition stärker werden und es werden über kurz oder lang Politiker aus der zweiten Reihe, die von dem russischen Präsidenten nicht abhängig sind, beziehungsweise Personen aus dem Sicherheitsapparat um die Führung kämpfen. Vergessen wir dabei nicht, dass Putin seine Wurzeln beim sowjetischen Geheimdienst KGB hatte.
Südfinder: Können andere Staaten bzw. deren Medien überhaupt Veränderung in Russland bewirken?
Hermanni: Realistisch betrachtet greifen die wirtschaftlichen Sanktionen, die die Europäische Union oder die USA ergriffen haben, mittel- und langfristig. Zahlreiche ausländische Unternehmen stellten inzwischen ihre Geschäfte in Russland ein, wodurch hunderttausende Arbeitsplätze verloren gingen und das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung sank. Bemerkbar machen sich zudem die Exportbeschränkungen und die hohe Inflationsrate, wobei die einheimische Wirtschaft nicht mehr lange auf Finanzreserven zurückgreifen kann. Ich denke, der Einbruch der russischen Wirtschaft und dessen Abwärtstrend wird Krisen im Land hervorrufen, die aber nicht unmittelbar zu einer substanziellen politischen Korrektur oder gar zu einem schnellen Sturz Putins beitragen.
Nicht zu unterschätzen sind allerdings westliche Informationsquellen, allen voran die sozialen Medien, die tagtäglich völkerrechtliche Verbrechen im Krieg zeigen. Viele kritische Stimmen nutzen soziale Medien wie VKontakte, Facebook, oder den Messenger Telegram als kostenlose Plattform mit hoher Reichweite für kritische Meinungsstücke, Kommentare und Analysen. Insbesondere unabhängige Journalisten haben dort mehrere tausend Follower und Abonnenten. Falls diese Bilder oder Kommentare des Schreckens größere Teile der russischen Bevölkerung erreichen, und ein direkter Zusammenhang zwischen den EU-/USA-Sanktionen als Reaktion auf Russlands Invasion auf die Ukraine und der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zerfall der Sowjetunion sichtbar wird, findet ein Umdenken in den Köpfen der Bürger statt.
Bedeutsam für die Menschheit ist, dass die europäische Friedensordnung mit dem russischen Angriff auf die Ukraine zerstört wurde. Angesichts des unermesslichen Leids für die Zivilbevölkerung und der Zerstörungswut der Aggressoren sowie der weltweiten Herausforderungen zur Rettung des Planeten Erde ist es ganz wesentlich, dass dieser Krieg schnell beendet wird, damit weiterführende Gespräche zwischen Europa, den USA und Russland über gesamteuropäische Interessen, Perspektiven sowie Regeln stattfinden können. Um die Normalität in Europa aber wieder herzustellen, bedarf es einer neuen und stabilen Sicherheitsordnung, eines gegenseitigen Klimas des Vertrauens und vor allem eine lange Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten und um gemeinsame Werte zu konstituieren.
Südfinder: Wie sehr verfängt sich russische Propaganda in Deutschland und wen erreicht sie hier?
Hermanni: Prorussische Aktivisten befeuern im Netz mit Desinformation die Kreml-Propaganda, wobei in den meisten Fällen die Wahrheit bis zum Äußersten verdreht wird. Die prorussischen Demonstranten in Deutschland reden von Protest gegen eine “Diskriminierung der russischen Bevölkerung”, zeigen aber gleichzeitig im Internetprofil oder bei öffentlichen Kundgebungen den Buchstaben “Z”, der die Bedeutung „Für den Sieg“ (über die Ukraine) trägt.
Nicht wenige Teilnehmer blenden jede Verbindung zum Krieg in der Ukraine aus und sind offenbar der Überzeugung, sie würden mit der Teilnahme an den Demonstrationen ein Zeichen für ihre Verwandtschaft in Russland setzen. Im Übrigen gibt es seit Kriegsbeginn solche Kundgebungen oder Autokorsos auch in Putins Reich.
Obwohl die Aufmärsche durchaus Aufmerksamkeit erzeugen, kommen die Propagandabotschaften bei großen Teilen der deutschen Bürger nicht an und werden als inszenierte Falschaussagen durchschaut. Damit einhergehend werden Stimmen aus Politik und Wissenschaft laut, dass eine Demokratie die Proteste aushalten muss, und raten zur Besonnenheit der Protestgegner.